• 2. Mai 2018

Kersti Kaljulaid, Staatspräsidentin Estland

„Wir sind nicht der Wilde Westen der digitalen Welt - im Gegenteil!“

Kersti Kaljulaid, Staatspräsidentin Estland

Kersti Kaljulaid, Staatspräsidentin Estland 150 150 Sven Lilienström

„Wir sind nicht der Wilde Westen der digitalen Welt – im Gegenteil!“

Kersti Kaljulaid ist seit Herbst 2016 Staatspräsidentin der Republik Estland. Zuvor war die 48-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin mehr als zwölf Jahre lang Mitglied des Europäischen Rechnungshofes mit Sitz in Luxemburg. Kaljulaid ist die erste Frau im Amt der Staatspräsidentin seit Gründung der Republik Estland im Jahr 1918. Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, sprach mit Kersti Kaljulaid über die Europäische Union als Garant für Freiheit, Russland als regionales Sicherheitsrisiko und Datenschutz als Form der „Digitalhygiene“ in Estland.

Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, und Kersti Kaljulaid, Staatspräsidentin der Republik Estland | © Anna Zaugarova

Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie und Kersti Kaljulaid, Staatspräsidentin der Republik Estland | © Anna Zaugarova

Sehr geehrte Frau Präsidentin, die Initiative Gesichter der Demokratie möchte ein besseres Demokratieverständnis in Deutschland, Europa und in der Welt setzen. Welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Kersti Kaljulaid: Demokratie ist insbesondere für kleine Staaten die Basis unserer internationalen Zusammenarbeit. Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu verständlich, dass demokratische Werte einen hohen Stellenwert für uns haben. Liberale demokratische Werte bilden das Fundament unserer nationalen und internationalen Rechtsgrundsätze und garantieren auch kleinen Ländern Gerechtigkeit sowie das Recht auf freie Entscheidung.

Liberale demokratische Werte bilden das Fundament unserer nationalen und internationalen Rechtsgrundsätze!

Was bedeutet Demokratie für mich persönlich? Ich bin in der damaligen Sowjetunion aufgewachsen. Meine Familie war von der Idee des Kommunismus nicht sonderlich überzeugt und mein größtes Problem bestand darin, jedes meiner Worte und jeden meiner Schritte mit Bedacht zu wählen. Meine Großmutter wurde 1947 aufgrund „antisowjetischem Handeln“ verhaftet und musste neun Jahre lang in einer Nickelmine arbeiten. Daher wurde mir schon von Kindesbeinen an bewusst, dass mein Tun und Handeln durch den KGB überwacht werden kann – eine sehr bedrückende Erfahrung.

Meine Großmutter wurde 1947 aufgrund „antisowjetischem Handeln“ verhaftet und musste neun Jahre lang in einer Nickelmine arbeiten.

Später versuchte die Sowjetunion verschiedene Nationen zu mischen. Menschen wurden weggeschickt, andere wiederum kamen, weil das Leben im Baltikum ohnehin besser war. Eine Möglichkeit des Protests existierte nicht.

Man konnte damals nicht einfach sagen: „Hey, mir gefällt nicht, dass meine Familie keine Wohnung kaufen oder mieten kann, während zugleich Hunderttausende von Menschen hierherkommen und die Regierung neue Städte für sie baut. Diese Menschen kommen hierher und respektieren unser Existenzrecht nicht!“

Diese Menschen kommen hierher und respektieren unser Existenzrecht nicht!“

Die Argumentation nach dem Zerfall der Sowjetunion war nicht so, wie es derzeit manchmal auf dem Balkan zu beobachten ist: Nehmt uns in die Europäische Union auf, wir adaptieren eure Demokratie und euer Prinzip der Rechtstaatlichkeit und ihr schuldet uns die Freiheit. Es war genau umgekehrt. Wir wollten die Europäische Union als Sicherheit und Garantie dafür, dass wir immer diese Freiheiten haben werden.

Wir wollten die Europäische Union als Sicherheit und Garantie dafür, dass wir immer diese Freiheiten haben werden!

Die Europäische Union ist bis heute ein wichtiger Garant für Sicherheit und demokratische Werte in unserer Region. Wir sind nicht des Geldes wegen beigetreten. Das Geld war zu keiner Zeit ausschlaggebend, sondern vielmehr die Sicherheit und die Demokratie des Westens.

Sie sind leidenschaftliche Europäerin. Warum ist die EU so wichtig für uns und was muss sich Ihrer Meinung nach ändern, damit die Menschen das teilweise verlorene Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit der EU zurückgewinnen?

Kersti Kaljulaid: Zunächst einmal ist hervorzuheben, dass viele Politiker damit aufgehört haben, Brüssel für ihre eigenen Fehler verantwortlich zu machen. Die Europäische Union ermöglicht freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Von diesen Freiheiten haben seit 2004 alle Mitgliedstaaten profitiert und konnten – mit Ausnahme von Griechenland – ihren Wohlstand verbessern und wirtschaftlich wachsen. Eine klare Win-Win-Investition.

 Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass das Geld auch bei ihnen ankommt!

Wichtig ist, dass die zusätzlichen Einnahmen in Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Einrichtungen investiert werden. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass das Geld auch bei ihnen ankommt! In Ländern, wo dies funktioniert, ist die Skepsis gegenüber Europa wesentlich verhaltener, weil die Menschen das Gefühl haben von der Europäischen Union zu profitieren.

Die Menschen sehen, dass der reichere Teil immer reicher wird und sie selbst außen vor bleiben.

Wenn sich die Regierung eines EU-Mitglieds nicht hinreichend um das Wohl ihrer Bürgerinnen und Bürger kümmert, wird sehr schnell mit dem Finger auf Brüssel gezeigt. Die Menschen sehen, dass der reichere Teil immer reicher wird und sie selbst außen vor bleiben. Natürlich ist das ungerecht, aber nicht die Schuld der Europäischen Union. Brüssel ist nicht verantwortlich für die Umverteilungspolitik der Mitgliedstaaten. Dies haben unsere Politiker in der Vergangenheit nicht klar genug kommuniziert. Von daher ist es leicht, Brüssel die Schuld zu geben.

Allerdings kann es auch sehr teuer werden Brüssel die Schuld zu geben. Der Brexit macht deutlich, dass der Austritt eines Mitgliedstaates aus der Europäischen Union mit hohen Kosten verbunden sein kann.

Die Europäische Union wird also immer auch eine Geisel der Regierungen ihrer Mitgliedstaaten sein. Wird ein EU-Mitglied „schlecht“ regiert, verliert die EU an Attraktivität.

Die Europäische Union ist in den Köpfen der Menschen nur dann attraktiv, wenn die Mitgliedstaaten die Möglichkeiten und den von der EU geschaffenen Raum im Interesse ihrer Bürgerinnen und Bürger nutzen. Die Europäische Union wird also immer auch eine Geisel der Regierungen ihrer Mitgliedstaaten sein. Wird ein EU-Mitglied „schlecht“ regiert, verliert die EU an Attraktivität. Ich denke, wir müssen auch diesbezüglich unserer Verantwortung gerecht werden.

Kersti Kaljulaid: Die Europäische Union ist keine Verwaltung ihrer Mitgliedstaaten. Das war sie nie.

Natürlich trägt auch die EU selbst Verantwortung. Ich erinnere mich an meine Zeit beim Europäischen Rechnungshof. Dort habe ich 2006 einen Bericht der EU-Kommission gelesen, der darauf verwies, dass der Europäische Kohäsionsfonds viele neue Arbeitsplätze geschaffen hat. Im Jahr 2009 kam dann die Ernüchterung. Die Arbeitslosigkeit ist trotz der EU-Kohäsionspolitik angestiegen. Im Nachhinein betrachtet, hätte es in besagtem Bericht besser heißen sollen, dass die EU-Kohäsionspolitik den Regierungen der Mitgliedstaaten geholfen hat, diese Arbeitsplätze zu schaffen. Denn letztendlich definieren die Mitgliedstaaten ihre eigenen Ziele – auch die Kohäsionsausgaben betreffend. Die Europäische Union ist keine Verwaltung ihrer Mitgliedstaaten. Das war sie nie.

Also nochmal, die Europäische Union kann nichts für die „einfachen“ Menschen tun. Es sind vielmehr die Regierungen der Mitgliedstaaten, die auch das EU-Budget verwalten. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage der Europäischen Union, nah an den Menschen sein zu können und zu wollen, falsch. Die EU ist und bleibt ein schwieriges Rechtskonstrukt.

Ich sage den Menschen in Estland immer: Auch wenn ihr nicht alles versteht – macht euch keine Sorgen.

Ich sage den Menschen in Estland immer: Auch wenn ihr nicht alles versteht – macht euch keine Sorgen. Eure Politiker nehmen an den EU-Ratssitzungen teil und treffen gleichberechtigte Entscheidungen, die den Kontinent weiterentwickeln. Das ist alles was ihr wissen müsst. Der Rest ist Politik des jeweiligen Mitgliedstaates.

Protektionistische Tendenzen nehmen momentan überall auf der Welt zu. Was sagen Sie Menschen, die behaupten, dass Abschottung und Handelsbarrieren die heimische Wirtschaft stärken und neue Arbeitsplätze schaffen?

Kersti Kaljulaid: Nun ja, das ist meiner Meinung nach darauf zurückzuführen, dass manche Menschen die Globalisierung oder den globalen Markt für die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit ihrer Region oder Regierung verantwortlich machen. Doch der Markt trägt keine Verantwortung – vielmehr sind es Defizite hinsichtlich Bildung oder Chancenverteilung im Land. Es liegt nicht am Markt und es liegt auch nicht an der Tatsache, dass wir freien Warenverkehr haben.

Das Eingreifen in die Märkte bringt niemandem etwas. Mikroökonomisch betrachtet hat jede Einmischung ihren Preis, auch führt jedes Einmischen zu einer weiteren Einmischung, die wiederum mit Kosten verbunden ist. Es ist folglich eine Abwärtsspirale. Stattdessen sollten wir die Gelegenheit ergreifen, die zusätzlichen Ressourcen, die der globale Markt bietet, fair zu nutzen.

Kersti Kaljulaid: Wir investieren deutlich mehr in Bildung als viele andere Länder.

Das Schulsystem in Estland beispielsweise hat für uns einen enorm hohen Stellenwert. Wir investieren deutlich mehr in Bildung als viele andere Länder. Wir bestehen darauf, dass alle Schulen den gleichen Standard erfüllen. Gemeinsam mit Finnland sind wir Weltmeister in den Pisa-Tests. Vor diesem Hintergrund können die Menschen bestehende Einkommensunterschiede tolerieren, weil sie wissen: Die Zukunft meines Kindes ist nicht gefährdet, nur weil ich einen schlecht bezahlten Job habe. Mein Kind wird die Sekundarschule abschließen und an die gleiche Universität gehen können, die beispielsweise auch die Kinder der Präsidentin besuchen. Wir haben wirklich ein fantastisches egalitäres Bildungssystem in Estland.

Mein Kind wird die Sekundarschule abschließen und an die gleiche Universität gehen können, die beispielsweise auch die Kinder der Präsidentin besuchen.

Stichwort Wirtschaftswachstum: Wir hatten phasenweise ein fantastisches Wachstum und dann kam wie überall die Wirtschaftskrise. Jetzt ist alles wieder gut. Wie auch immer, das Durchschnittsgehalt betrug 1991 umgerechnet 30 Euro, heutzutage liegt es bei rund 1.300 Euro. Die Gewinne dieses Wachstums sind nicht in die Taschen einiger Weniger geflossen. Auch wenn unsere Steuerlast generell nicht so hoch ist, sind die Steuereinnahmen nachhaltig in das Gesundheitssystem und in die Bildung investiert worden. Ich bin davon überzeugt, dass Investitionen in Gesundheit und Bildung den Menschen helfen, ihr Vertrauen in die globalen Märkte aufzubauen.

Ich bin davon überzeugt, dass Investitionen in Gesundheit und Bildung den Menschen helfen, ihr Vertrauen in die globalen Märkte aufzubauen.

Niemand in Estland wird Ihnen sagen, dass wir Grenzen schließen müssen. Wir wissen, dass der Handel zwischen den USA und der EU ein sehr großes Volumen umfasst. Dasselbe gilt für den Handel zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU. Es gibt einen massiven Handel. Wir wissen aber auch, dass dieses „wirtschaftliche Denken“ nicht überall vorhanden und zum Teil in protektionistisches Denken umgeschlagen ist. Das Ablehnen von Arbeitskräften aus anderen europäischen Ländern ist genau dasselbe: protektionistisch!

Die globale Sicherheitsarchitektur sieht sich zunehmend neuen Herausforderungen ausgesetzt. Was, würden Sie sagen, ist die größte Gefahr für die Europäische Sicherheitspolitik in den kommenden Jahren?

Kersti Kaljulaid: Wir können heutzutage nicht mehr nur von einer einzelnen Gefahr sprechen. Es gibt sowohl konventionelle als auch nukleare Risiken. Andere Risiken – wie beispielsweise Cyber-Attacken – sind völlig neu. Durch die Technologieentwicklung kombinieren wir diese Risiken miteinander. Die Anwendung internationalen Rechts muss auch für diese neuen Technologien gelten – dieses Problem haben wir auf internationaler Ebene bislang nicht richtig erkannt. Hierüber müssen wir reden.

Ich war am verzweifeln: Wir haben über Künstliche Intelligenz diskutiert, aber das Gespräch drehte sich nur um automatische Waffen!

Denn was wäre, wenn jemand eine Künstliche Intelligenz schafft – ein autonomes System – und wir nicht in der Lage sind dieses zu bedienen. Was wären die Folgen? Auf welches internationale Recht können sich Länder berufen, wenn jemand automatisierte oder autonome Systeme gegen ihre Elektrizitätsversorgung einsetzt. Genau dieses Beispiel ist auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz diskutiert worden. Ich war am verzweifeln: Wir haben über Künstliche Intelligenz diskutiert, aber das Gespräch drehte sich nur um automatische Waffen!

Stellen wir uns vor, einen relativ intelligenten Computerwurm erschaffen zu können der in der Lage ist, in ein System einzudringen, etwas über dieses System zu lernen und es dann zu zerstören oder von seiner eigentlichen Aufgabe abzubringen. Dies ist – wie wir wissen – bereits in einem iranischen Atomkraftwerk geschehen. Angenommen dieser Wurm sei um 30 Jahre intelligenter und wäre in dieses nukleare System eingedrungen. Wir glauben zu wissen, was er im System liest, weil er ja in das System eines Atomkraftwerks eingedrungen ist. Stellen wir uns jetzt vor, dass jemand einen kontaminierten Computer für die Arbeit im System benutzt – ein Ingenieur zum Beispiel. Natürlich gibt es strenge Vorschriften die verbieten, denselben Computer für die Arbeit im System zu verwenden, auf dem man vorher Nachrichten oder E-Mails gelesen hat. Das ist streng verboten – aber einer der häufigsten Nachlässigkeiten in der „Digitalhygiene“.

Der Computerwurm könnte vermuten, dass dieses Verbot seine eigene Existenz gefährdet. Was würde er tun?

Was wäre, wenn diese Person – dieser Ingenieur – in seinen Nachrichten gelesen hat, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen über ein Verbot zur Nutzung von künstlicher Intelligenz für militärische Zwecke abstimmen möchte. Der Computerwurm könnte vermuten, dass dieses Verbot seine eigene Existenz gefährdet. Was würde er tun?

Es sollte uns bewusst sein wie gefährlich es ist, autonome Systeme nicht durch ein internationales Gesetz zu regulieren.

Ich gebe zu, dass wir uns dieser Situation vielleicht niemals stellen brauchen. Aber es sollte uns bewusst sein wie gefährlich es ist, autonome Systeme nicht durch ein internationales Gesetz zu regulieren.

Ein großes regionales Sicherheitsrisiko für uns ist es, Russland falsch zu verstehen. Ich denke, wir haben unseren Nachbarn mehrmals missverstanden. 2014 kam die Annexion der Krim und wir haben Sanktionen durchgesetzt, wir hatten unsere roten Linien – und wir machten Russland wütend, weil Russland zum ersten Mal die Konsequenzen ihres Handels zu spüren bekam. Dadurch hat sich Russland mehr und mehr in eine Ecke manövriert und sucht nun nach Möglichkeiten eines Auswegs.

Russland ist eine abnehmende Supermacht, das Zeitfenster für eine Veränderung schließt sich!

Wenn wir Russland und China miteinander vergleichen, gibt es einen wesentlichen Unterschied. China wächst – China hat alle Zeit der Welt! Betrachten wir hingegen Russland stellen wir fest: Demografie und Wirtschaft sind schrecklich. Russland ist eine abnehmende Supermacht, das Zeitfenster für eine Veränderung schließt sich. Mir bereitet es große Sorgen, dass unsere Partner den folgenden Fakt irgendwann einmal fehlinterpretieren könnten: „If you are in the corner, your window of opportunity is closing!“ Russland hat mehr Technik, Männer und Panzer in unserer Region als wir. Würden Sie dann nicht versuchen das Blatt noch zu wenden und den Vorteil nutzen – den Sie noch haben – in dem Wissen, dass sich Ihr Zeitfenster für Veränderungen schließt? Vor diesem Hintergrund müssen wir in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren unbedingt sicherstellen, dass Russland unsere Geschlossenheit und unsere Handlungsbereitschaft erkennt.

Alles ist völlig logisch, was Russland tut. Wo sie Risse in unserer Geschlossenheit sehen, reagieren sie.

Ich denke Russland hat immer dann gehandelt, wenn es Risse in unserer Einheit vermutet hat – beispielsweise unsere Bedenken darin, dass Georgien und die Ukraine es schaffen, sich der Europäischen Union und der NATO anzunähern. Jetzt hatten wir den Brexit und ich glaube, Russland dachte wirklich, dass unsere Einheit dadurch zerbricht. Salisbury passierte. Sie sehen, es gibt einen roten Faden: Alles ist völlig logisch, was Russland tut. Wo sie Risse in unserer Geschlossenheit sehen, reagieren sie. Was – wenn sie dachten, dass Artikel 5 nicht schnell genug in Kraft treten würde, wenn sie etwas unternehmen? Was – wenn sie das dachten? Wir müssen absolut sicher sein, dass unsere Beschlüsse auf dem NATO-Gipfel im Sommer deutlich machen, dass auch wenn wir manchmal darüber diskutieren, ob Sanktionen sinnvoll sind oder nicht – die Botschaft im Ernstfall lauet: „There is no doubt!“

Ich habe keinerlei Zweifel bezüglich Artikel 5, aber ich weiß nicht, was Herr Putin denkt!

Wir müssen dringend darüber nachdenken mehr Präsenz in dieser Region zu zeigen, weil Russland dies sonst als ein falsches Signal interpretieren könnte. Ich habe keinerlei Zweifel bezüglich Artikel 5, aber ich weiß nicht, was Herr Putin denkt. Von daher müssen wir diesen Sommer – und auch in den kommenden zehn bis fünfzehn Jahren – sehr stark sein. Wir können nicht einfach sagen: Weil Russland gefährlich ist, werden wir stark sein. Wir müssen stark sein! Wir müssen unsere Geschlossenheit bewahren und wir müssen unsere Sanktionen beibehalten – auch wenn dies natürlich Russland dazu verleitet, neue Risse zu suchen. Das ist unser regionales Risiko.

Wir müssen unsere Geschlossenheit bewahren und wir müssen unsere Sanktionen beibehalten – auch wenn dies natürlich Russland dazu verleitet, neue Risse zu suchen.

Schlussendlich kann ich Ihnen nicht sagen, ob das globale Technologierisiko oder das russische Risiko größer ist. Es gibt ja auch noch andere Krisenherde wie beispielsweise Syrien oder Nordkorea – grundsätzlich ist es ein Risiko, so viele instabile Regionen zu haben.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat kürzlich darauf verwiesen, dass nach dem Brexit nur noch 20 Prozent der Nato-Verteidigungsausgaben von EU-Ländern finanziert werden. Welchen Stellenwert hat die EU dann überhaupt noch in der Nato?

Kersti Kaljulaid: Ich hoffe sehr, dass die Einrichtung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) sich zu einer wirklichen Ergänzung der NATO entwickelt. Die Europäische Union hat etwas, was die NATO nicht hat und niemals haben wird: Die Möglichkeiten zur Umverteilung. Meine Frage lautet daher: Welchen Wert hat PESCO, wenn wir unsere Verteidigungskapazitäten nicht umverteilen? Ich habe allergrößtes Verständnis dafür, wenn Luxemburg sagt, Militärausgaben in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts stehen in keinem Verhältnis zu unserer Armee. Allerdings habe ich kein Verständnis dafür, wenn sie gar nichts zahlen bräuchten. Und Luxemburg ist klar, dass sie sich beteiligen müssen.

Ich habe die Frage auch einem Ihrer Minister auf der Münchner Sicherheitskonferenz gestellt. Die Antwort lautete: Sie können sich gar nicht vorstellen, was wir bereits zahlen.

Ich habe die oben genannte Frage auch einem Ihrer Minister auf der Münchner Sicherheitskonferenz gestellt. Die Antwort lautete: Sie können sich gar nicht vorstellen, was wir bereits zahlen. Aber offen gesagt, warum sollen meine zwei Prozent weniger wert sein? Wir zahlen sogar mehr als zwei Prozent. Ich habe einige Staatsoberhäupter gehört, die nicht einmal wussten, dass wir uns mit zwei Prozent beteiligen. Als sie es dann erfahren haben meinten ein paar von ihnen: Aber dann haben wir einen Freifahrtschein. „Sorry, this is it: You cannot free-ride!“ Selbst wenn unsere zwei Prozent die Menge an Geld ist, die das Pentagon in sechs oder acht Stunden ausgibt, heißt das nicht, dass es weniger wert ist.

Ich habe einige Staatsoberhäupter gehört, die nicht einmal wussten, dass wir uns mit zwei Prozent beteiligen.

Wenn wir als Europäische Union zur Verteidigungsdiskussion beitragen und Maßnahmen ergreifen wollen, dann sollten wir die Möglichkeiten der Umverteilung nutzen. Und Mittel und Wege finden, dass jene Länder, welche diese Ausgaben zu Hause nicht rechtfertigen können, sich anderswo beteiligen – überhaupt kein Problem. Wir könnten leicht Vereinbarungen finden.

Estland hat eine wirklich gute Verteidigungsplanung. Entschuldigung, aber wir sind nun mal ein kleines Land!

Wo ist das Problem? Du kannst dich nicht beteiligen – ich akzeptiere das. Estland hat eine wirklich gute Verteidigungsplanung. Was wir investieren, wird effektiv verwendet. Entschuldigung, aber wir sind nun mal ein kleines Land. Daher bin ich der Meinung, dass Europa mehr tun sollte und Jens Stoltenberg recht hat: Wir sollten PESCO in der Tat ernst nehmen. Denn wenn wir nur reden, dann haben wir ein am Ende nur ein leeres Blatt Papier und das ist etwas, was ich hasse. Ich hoffe, dass wir in Europa auch unsere militärische Stärke verbessern werden.

Estland gilt als eine der europäischen Vorzeigenation in Sachen Digitalisierung. Wie gelingt es Ihnen, dass Spannungsfeld zwischen digitaler Transformation, Datenschutz und Cybersicherheit zu überwinden?

Kersti Kaljulaid: Das ist eine interessante Frage, denn Estland ist Deutschland in Sachen Technologieentwicklung keineswegs voraus. Siemens ist definitiv genauso „technologisch“ wie das in Estland entwickelte Skype. Allerdings haben – warum auch immer – einige Regierungen in Europa die Chance verpasst an dieser Entwicklung teilzuhaben. Als wir seitens der Privatwirtschaft zum Dialog eingeladen wurden, ist unsere Regierung auch hingegangen! Auf diese Weise haben wir eine sichere digitale Umgebung für eine ganze Generation geschaffen.

Wir haben eine sichere digitale Umgebung für eine ganze Generation geschaffen.

Wenn wir in Estland beispielsweise etwas unterschreiben wird ein digitaler Zeitstempel erzeugt. Wir wissen daher genau, wann wir unterschrieben haben. Nehmen wir an, ein Polizeibeamter möchte einige Daten anhand unserer Regierungssysteme überprüfen. Dann würde ich nicht nur wissen, dass es die Polizei war; ich würde anhand eines Fingerabdrucks die genaue Person identifizieren können. Wenn ich mich dann über die internen Kontrollinstanzen der Polizei beschwere und Auskunft darüber verlange, wer meine Daten eingesehen hat, wird diese Person dazu befragt. Hatte er oder sie das Recht, meine Daten einzusehen? Falls nicht, wird diese Person entsprechend bestraft. Wir sind nicht der Wilde Westen der digitalen Welt – im Gegenteil. Wir sind stark reguliert!

Wir sind nicht der Wilde Westen der digitalen Welt – im Gegenteil. Wir sind stark reguliert!

Der Staat ist verantwortlich dafür, die digitale Signatur zu garantieren. Niemand kann erwarten, dass seine über das Internet getroffenen Vereinbarungen gültig sind, es sei denn, sie wurden digital unterschrieben – also mehr Regulierung als in anderen Ländern. Dasselbe gilt für die Datensicherheit – auch hier haben wir mehr Regulierung als in anderen Ländern. Hat Ihre Regierung jemals versprochen, dass Ihnen immer gesagt wird, wenn jemand Ihre Polizeiakte überprüft? Meine Regierung hat das versprochen. Wie Sie sehen, haben sich die Regierungen zum Teil ihrer Verantwortung entzogen, beschweren sich jetzt über die Privatwirtschaft und das „wilde Internet“ und denken, wir in Estland sind verrückt. Sind wir nicht! Wir erkennen die Risiken.

Hat Ihre Regierung jemals versprochen, dass Ihnen immer gesagt wird, wenn jemand Ihre Polizeiakte überprüft? Meine Regierung hat das versprochen.

Darüber hinaus versuchen wir immer, legalen Spielraum für neue Entwicklungen zu schaffen. Als Beispiel dafür möchte ich das estnische Genom-Gesetz nennen. Um die Jahrtausendwende herum haben wir die „Estonian Genome Foundation“ und das Genom-Gesetz geschaffen. Auch hier haben wir keine „wilde Welt“ erschaffen – manchmal denken die Menschen: Seid ihr naiv. Ihr erlaubt jedem, in eure DNA zu schauen. Nein, sind wir nicht. Wir haben eine Rechtsabteilung geschaffen, die genau festlegt, was möglich ist, wie die Daten gespeichert werden müssen, wer das Recht dazu hat und wie die gewonnenen Daten für die medizinische Entwicklung verwendet werden dürfen. All das ist streng reguliert, aber zugelassen.

In den kommenden Jahren werden mehr als zehn Prozent der estnischen Bevölkerung ihre genetischen Risiken in Bezug auf Diabetes II, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Unfruchtbarkeit und so weiter kennen.

In den kommenden Jahren werden mehr als zehn Prozent der estnischen Bevölkerung ihre genetischen Risiken in Bezug auf Diabetes II, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Unfruchtbarkeit und so weiter kennen. Stellen Sie sich vor, Sie haben diese Daten für mehr als zehn Prozent der Bevölkerung erfasst – diese zehn Prozent haben Familie. Insgesamt würden mehr als dreißig Prozent der Bevölkerung tatsächlich wissen, was ihre genetischen Risiken sind. Das ist eine enorme Ersparnis im Gesundheitswesen.

Warum trauen die Menschen in demokratischen Staaten ihren Regierungen keinen sorgsamen Umgang mit ihren Daten zu, während sie ihren Banken und sogar Facebook diesbezüglich vertrauen?

Die grundlegende Frage lautet: Warum trauen die Menschen in demokratischen Staaten ihren Regierungen keinen sorgsamen Umgang mit ihren Daten zu, während sie ihren Banken und sogar Facebook diesbezüglich vertrauen. Ich kann diese Frage nicht beantworten, weil die Menschen in Estland uns vertrauen.

Frau Präsidentin, unsere siebte Frage ist stets eine persönliche: Was machen Sie in Ihrer Freizeit am liebsten und welche Ziele haben Sie sich für die nächsten Jahre gesetzt – beruflich und privat?

Kersti Kaljulaid: Außenpolitisch betrachtet, ist diese Frage einfach zu beantworten. Jeden Morgen wache ich in einer „neuen“ Welt auf und denke darüber nach, die Position meines Landes international zu stärken. Die Beziehungspflege zu Partnern und Verbündeten gehört daher zu meiner täglichen außenpolitischen Arbeit.

Jeden Morgen wache ich in einer „neuen“ Welt auf und denke darüber nach, die Position meines Landes international zu stärken.

Innenpolitisch betrachtet: Laut aktuellem Ranking der Weltbank belegt Estland Platz 36 von 162 bewerteten Ländern. Ich bin jedoch der Meinung, wir könnten im Bereich der sozialen Gerechtigkeit viel mehr tun, um beispielsweise zu gewährleisten, dass behinderte Menschen und Menschen mit Problemen stärker unterstützt werden. Wir haben die Mittel dafür und müssen sicherzustellen, dass alle in unserer Gesellschaft gleich behandelt werden und dieselben Möglichkeiten haben. Das ist meine große Mission!

Kersti Kaljulaid: „Freizeit“ ist ein Wort von dem ich gehört habe!

Mein Privatleben? Nun ja – „Freizeit“ ist ein Wort von dem ich gehört habe. Mein Ziel ist es, einmal in der Woche Deutsch zu lernen. Ansonsten verbringe ich meine freie Zeit am liebsten mit meiner Familie und treibe Sport – beim Sport kann ich abschalten. Erst gestern bin ich zehn Kilometer gelaufen. Zuhause angekommen habe ich meinen Kleinsten auf den Schoß genommen und meine Notizen gelesen, während er sein Buch las. Insgesamt habe ich vier Kinder und bin somit beruflich wie privat ausgelastet. Aber ich denke, Sie können die Präsidentin oder den Präsidenten eines jeden Landes fragen – Freizeit ist rares Gut.

Für den Rückhalt in meiner Familie bin ich sehr dankbar und auch dafür, dass wir die wenige Zeit für gemeinsame Aktivitäten nutzen. Selbst wenn ich – wie am Mittwochabend – erst um 2:00 Uhr morgens vom Flughafen nach Hause komme und um 6:30 Uhr wieder zur Arbeit aufbreche, begrüßt mich mein Mann. Meine Familie ist eine wirklich große Unterstützung für mich!

Vielen Dank für das Interview Frau Staatspräsidentin!

Anmerkung: Das Interview mit Kersti Kaljulaid haben wir am 12. April 2018 in Tallinn geführt. Das Gespräch mit Kersti Kaljulaid fand in englischer Sprache statt.

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