„Die EU muss sich von Macrons Reformismus anstecken lassen!“
Dr. Jürgen Linden (72) ist Sozialdemokrat und seit dem Jahr 2010 Vorsitzender der Gesellschaft zur Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen. Zuvor war er zwischen 1989 und 2009 Oberbürgermeister der Stadt Aachen. Der promovierte Jurist ist Mitglied im Deutschen Anwaltsverein, des örtlichen Anwaltsvereins Aachen und zugelassen bei der Rechtsanwaltskammer Köln. Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, sprach mit Dr. Linden über Demokratie, Populismus und die Frage, warum trotz Krise in der EU der Integrationsgedanke des Karlspreises hoch aktuell ist.
Herr Dr. Linden, unsere pluralistische Gesellschaft gründet auf spezifischen Wert- und Normvorstellungen. Welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?
Dr. Jürgen Linden: Demokratie ist für mich Freiheit, Verantwortung, Teilhabe an der Gestaltung der Gesellschaft, aber auch Kontrolle gegenüber den gewählten Repräsentanten des Volkes.
Für mich steht die Chancengleichheit in der Prioritätenliste ganz oben!
Grundlegende Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Ordnung sind die Achtung der Menschenrechte, vor allem das Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung und die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Für mich steht die Chancengleichheit in der Prioritätenliste ganz oben.
Als Vorsitzender der Gesellschaft zur Verleihung des Internationalen Karlspreises sind Sie ein überzeugter Europäer. Wie würden Sie einem EU-Skeptiker erklären, dass die EU gut für uns ist?
Dr. Jürgen Linden: Überzeugte und selbst skeptische Europäer wissen, dass Frieden, Freiheit, Demokratie und in vielen Ländern auch Stabilität und sozialer Wohlstand der EU und ihrer Entwicklung zu verdanken sind. Darüber hinaus hat uns die EU verbesserte Arbeits- und Bildungsbedingungen verschafft, tolle Programme wie ERASMUS, Reisefreiheit, Hilfen beim Strukturwandel verschiedener Regionen – ja sogar die Optimierung der Handygebühren.
Wie arm würden wir sein, wenn wir das alles nicht mehr besäßen?
Vor allem aber hat uns die EU ein besseres Verständnis zwischen den Völkern, vor allem den Nachbarn gebracht, den Genuss einer vielfältigen und reichen Kultur sowie der Kunst, Wettkämpfe im Sport, europäische Feriencamps, Schüleraustausch und vieles mehr! Wie arm würden wir sein, wenn wir das alles nicht mehr besäßen?
Der Internationale Karlspreis ehrt Persönlichkeiten oder Institutionen, die sich um Europa verdient gemacht haben. Doch Europa steckt in einer Krise. Ist die Auszeichnung somit obsolet geworden?
Dr. Jürgen Linden: Die Europäische Union muss in der Tat ihre tiefe Krise überwinden und sich anstecken lassen vom Reformismus eines Emmanuel Macron.
Der Karlspreis fordert seit einigen Jahren mehr Mut für notwendige Reformen und eine stärkere Einbeziehung der Bürgerschaft.
Bei Karlspreis-Verleihungen der jüngsten Vergangenheit wurden etliche Impulse für eine europäische Zukunftsvision formuliert, so für eine politische Union, für eine Wirtschaftsregierung, für ein europäisches Finanzministerium, für mehr Demokratie, für eine einheitliche Außenpolitik, vor allem aber für einen öffentlichen europäischen Dialograum, der die Bürger in die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse der Brüsseler Institutionen einbindet. Der Karlspreis fordert seit einigen Jahren von den Entscheidungsträgern in Europa mehr Mut für die notwendigen Reformen und eine stärkere Einbeziehung der Bürgerschaft. Aufgaben für die Zukunft gibt es genug, so dass der Integrationsgedanke des Karlspreises nach wie vor hoch aktuell ist.
Stichwort No-Deal-Brexit: Premierminister Boris Johnson hat zuletzt eine Verlängerung der Brexit-Frist abgelehnt. Mit welchen Folgen rechnen Sie bei einem ungeordneten EU-Austritt der Briten?
Dr. Jürgen Linden: Die Folgen eines ungeordneten EU-Austritts der Briten kann ich nicht endgültig abschätzen.
Schlimm wäre eine Gefährdung von Existenzen von Bürgern auf beiden Seiten des Ärmelkanals.
Die britische Regierung rechnet selbst mit Engpässen in der Versorgung, vor allem bei Lebensmitteln und Medikamenten, dazu Sicherheitslücken im System, Verluste im Außenhandel und vielem mehr. Schlimm wäre durch den Wegfall des freien Marktes eine Gefährdung von Arbeitsplätzen und damit Existenzen von Bürgern auf beiden Seiten des Ärmelkanals.
Freie Medien sind ein Grundpfeiler der Demokratie. Doch Journalisten hierzulande sehen sich immer häufiger Drohungen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt. Ist unsere Pressefreiheit in Gefahr?
Dr. Jürgen Linden: Ich sehe die Pressefreiheit in Deutschland nicht in Gefahr – auch wenn aus dem rechten Lager vermehrt eine Diskriminierung der Presse, eine Einschränkung von Informations- und Rechercherechten erfolgt.
Allüberall in der Europäischen Union gilt es, den Anfängen der Einschüchterung entgegenzuwirken!
Restriktiver sehe ich die Situation in Ungarn, Tschechien und Polen. Allüberall in der Europäischen Union gilt es jedoch, den Anfängen der Einschüchterung entgegenzuwirken.
In einem Interview 2017 sagten Sie, man müsse dem Vormarsch der Populisten entschieden entgegentreten. Das funktioniere jedoch nicht vom Schreibtisch aus. Hat sich seitdem etwas geändert?
Dr. Jürgen Linden: Der Populismus entwickelt sich durch Parteien und Medienveröffentlichungen, er wächst aber in der Bevölkerung – auf der Straße, am Arbeitsplatz, auf der Fußballtribüne und im Restaurant. Dort muss man das populistische Gedankengut stellen und mit den Menschen über ihre Meinung diskutieren, Unwahrheiten widerlegen, Übertreibungen entkräften und Verschwörungstheorien entlarven.
Der Populismus entwickelt sich durch Parteien und Medienveröffentlichungen, er wächst aber in der Bevölkerung!
Andererseits sollte man Missstände anerkennen und an Lösungsvorschlägen gemeinsam arbeiten; vor allem sollte man die Ungleichheit in der Gesellschaft bekämpfen und den Unzufriedenen Wege aufzeigen, wie sie sich politisch beteiligen und ihre Situation verbessern können. Die Tendenz zu populistischen Haltungen ist leider in den letzten Jahren größer geworden.
Herr Dr. Linden, Ihre 20-jährige Tätigkeit als Oberbürgermeister der Stadt Aachen endete im Oktober 2009. Wie hat sich Ihre Work-Life-Balance seitdem verändert und was machen Sie in Ihrer Freizeit am liebsten?
Dr. Jürgen Linden: Beruflich bin ich als Anwalt noch aktiv, in der Freizeit habe ich etliche, vor allem europäisch orientierte Ehrenämter übernommen. Der öffentliche Druck, den ein Oberbürgermeister hat, ist aus meinem Leben verschwunden und ich kann heute meine Freizeit genießen, mehr lesen und für meine Familie da sein.