• 28. März 2023

Prof. Dr. Stephan Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts

„Müssen den Staat immer wieder erklären!“

Prof. Dr. Stephan Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts

Prof. Dr. Stephan Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts 150 150 Sven Lilienström

„Müssen den Staat immer wieder erklären!“

Prof. Dr. Stephan Harbarth ist Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) – dem höchsten Gericht in Deutschland. Der 51-jährige Jurist und Yale-Absolvent folgt in dieser Position auf Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, dessen zwölfjährige Amtszeit im Mai 2020 endete. Harbarth ist Mitglied der CDU/CSU und war in der Zeit von 2009 bis 2018 Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, sprach mit Prof. Dr. Stephan Harbarth über Demokratie, Grundrechte und die Frage, was eine gute Verfassungsrichterin beziehungsweise einen guten Verfassungsrichter ausmacht.

Prof. Dr. Stephan Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts | © Bundesverfassungsgericht / lorenz.fotodesign, Karlsruhe

Prof. Dr. Stephan Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts | © Bundesverfassungsgericht / lorenz.fotodesign, Karlsruhe

Herr Prof. Dr. Harbarth, die „Gesichter der Demokratie“ setzen sich für ein besseres Demokratieverständnis ein. Welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Stephan Harbarth: Zunächst empfinde ich eine große Dankbarkeit, einer Generation anzugehören, die in einem demokratischen Deutschland aufwachsen durfte. Ein Blick zurück in unsere Geschichte zeigt: Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Das am 23. Mai 1949 in Kraft getretene und seit der Wiedervereinigung für das gesamte deutsche Volk Wirklichkeit gewordene Grundgesetz hat sich als einzigartiger Glücksfall erwiesen. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, bestimmt Art. 20 Abs. 2 Satz 1.

Die Bürgerinnen und Bürger bestimmen in Freiheit, aber auch in Verantwortung für sich selbst und für einander über die Regeln unseres Zusammenlebens. Sie sind der Staat, nicht „die da oben“!

Das heißt: Die politische Willensbildung vollzieht sich vom Volk zu den staatlichen Institutionen hin und nicht umgekehrt. Ebenso erlangen die staatlichen Institutionen erst durch eine ununterbrochene Rückbindung ihres Handelns an die mehrheitlich getroffenen Entscheidungen die erforderliche demokratische Legitimation für die Ausübung von Hoheitsgewalt. Hinter diesem Prinzip steht zugleich ein Menschenbild: Die Bürgerinnen und Bürger bestimmen in Freiheit, aber auch in Verantwortung für sich selbst und für einander über die Regeln unseres Zusammenlebens. Sie sind der Staat, nicht „die da oben“, wie es gelegentlich formuliert wird.

„Think Tanks“ warnen seit Jahren vor einer schleichenden Erosion der Demokratie weltweit. Autokratische Systeme befeuern diesen Prozess. Ist unsere westlich geprägte Werteordnung in Gefahr?

Stephan Harbarth: Manche demoskopische Erhebung legt nahe, dass der demokratische Rechtsstaat westlicher Prägung unter Druck steht. Zugespitzt lässt sich formulieren: Der demokratische Diskurs wird als Zerstrittenheit, der sachliche Kompromiss als Ausdruck von Schwäche und Prinzipienlosigkeit gedeutet.

Die vordergründige Effizienz autoritärer Systeme erscheint als Überlegenheit, der Hinweis auf rechtliche Bindungen und Schranken als Bedenkenträgerei.

Die vordergründige Effizienz autoritärer Systeme erscheint als Überlegenheit, der Hinweis auf rechtliche Bindungen und Schranken als Bedenkenträgerei. Wahr ist: Die Demokratie muss eine immer komplexer werdende Welt in komplexen Verfahren ordnen und bewältigen. Die so – nicht selten kompromisshaft gefundenen – Lösungen entziehen sich vereinfachender Erklärungsmuster.

Die durch den gesellschaftlichen, aber auch den medialen Diskurs geweckte Sehnsucht nach Einfachheit und Eindeutigkeit kann durch den demokratischen Prozess häufig nicht gestillt werden!

Die durch den gesellschaftlichen, aber auch den medialen Diskurs geweckte Sehnsucht nach Einfachheit und Eindeutigkeit kann durch den demokratischen Prozess häufig nicht gestillt werden – und darf dies vielfach auch nicht! Es ist daher notwendig, dass wir den Staat, seine Aufgabe und Funktionsweise immer wieder erklären.

Das Bundesverfassungsgericht genießt ein hohes Vertrauen bei den Deutschen – doch es gibt auch Kritik in Sachen Unabhängigkeit. Zu Recht? Warum brauchen wir das Bundesverfassungsgericht?

Stephan Harbarth: Als „Hüter der Verfassung“ stehen dem Bundesverfassungsgericht einerseits die Aufgaben eines Staatsgerichtshofs zu, der maßgeblich die Einhaltung der verfassungsmäßigen Kompetenzen der übrigen Verfassungsorgane im Verhältnis zueinander und im Verhältnis zwischen Bund und Ländern kontrolliert. Andererseits wacht das Bundesverfassungsgericht als Bürgergericht auch über die Einhaltung der Grundrechte.

Auch in einer Demokratie bedarf es eines Korrektivs gegenüber der parlamentarischen Mehrheit, um die Grundrechte der Einzelnen zu schützen.

Jedermann kann sich im Wege einer Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht mit der Behauptung wenden, durch die öffentliche Gewalt in seinen Grundrechten verletzt zu sein. Warum ist das so? Weil es auch in einer Demokratie eines Korrektivs gegenüber der parlamentarischen Mehrheit bedarf, um die Grundrechte der Einzelnen zu schützen. Andersfalls könnte sich die Demokratie in eine „Tyrannei der Mehrheit“ verwandeln, wie es Alexis de Tocqueville formuliert hat. Das Individuum ist also der demokratisch legimitierten Staatsgewalt unterworfen, aber es ist eine Staatsgewalt, die umgekehrt auch das Individuum zu achten hat.

In seiner inzwischen fast 72-jährigen Geschichte hat das Bundesverfassungsgericht seine Unabhängigkeit ununterbrochen unterstrichen, indem es Parlament und Regierung Schranken aufgezeigt hat.

In seiner inzwischen fast 72-jährigen Geschichte hat das Bundesverfassungsgericht seine Unabhängigkeit ununterbrochen unterstrichen, indem es Parlament und Regierung Schranken aufgezeigt hat. Allerdings ist es nun einmal Aufgabe eines Gerichts, Streit zu entscheiden. Seine Entscheidungen können nicht allen gleichermaßen gefallen.

Apropos Vertrauen: In einer Umfrage von Infratest Dimap gaben zuletzt 80 Prozent an, großes Vertrauen in das BVerfG zu haben. Wie wichtig ist Ihnen eine gute Wahrnehmung in der Öffentlichkeit?

Stephan Harbarth: Der Maßstab für das Bundesverfassungsgericht ist allein das Grundgesetz. Es richtet sich bei seinen Entscheidungen weder nach politischen Opportunitäten noch nach Umfrageergebnissen oder gefühlten Stimmungslagen. Wenn erforderlich muss das Gericht auch unpopuläre Entscheidungen treffen und tut dies auch. Vielleicht liegt gerade hierin ein Grund für die anhaltend sehr hohen Vertrauenswerte, die dem Gericht in der Tat immer wieder bescheinigt werden. Mit dem Urteilsspruch ist es aber nicht getan.

Der berechtigte Ruf nach der Verständlichkeit des Rechts gilt auch den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts!

Der berechtigte Ruf nach der Verständlichkeit des Rechts gilt auch den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Die Verständlichkeit der Entscheidungen ist Grundvoraussetzung für deren Akzeptanz, aber auch für den in einer Demokratie legitimen kritischen Diskurs über sie. Das Bundesverfassungsgericht sieht sich daher in der Verpflichtung, seine Entscheidungen der Öffentlichkeit bestmöglich zu erklären. Einer anzustrebenden einfachen Allgemeinverständlichkeit sind freilich durch die immer weiter zunehmende Komplexität der zu würdigenden Sachverhalte natürliche Grenzen gesetzt.

Während einer Rede sagten Sie kürzlich, die Anonymität des Internets befördere die Verrohung. Wie meinen Sie das? Wie kann im Netz der Spagat zwischen Regulierung und freier Meinungsäußerung gelingen?

Stephan Harbarth: Bei allen positiven Seiten des Internets und sozialer Medien gilt doch: Die Anonymität und Pseudonymität, die Distanz zum Gegenüber befördern teils auch eine gewisse Verrohung und Enthemmung im Kommunikationsverhalten.

Der „Erfolg“ eines Beitrags verhält sich nicht selten proportional zum Ausmaß der durch ihn bewirkten Emotionalisierung, was die Verbreitung von Schmähungen begünstigt.

Der „Erfolg“ eines Beitrags verhält sich nicht selten proportional zum Ausmaß der durch ihn bewirkten Emotionalisierung, was die Verbreitung von Schmähungen begünstigt. Es gilt also die Freiheiten und die Möglichkeiten, die das Internet ohne Zweifel bietet, zu schützen, aber auch über Regeln für den Umgang miteinander im Internet intensiv nachzudenken und sie um- und durchzusetzen. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum und darf es auch nicht sein. Hier ist in erster Linie die Politik gefordert, Probleme zu identifizieren und Lösungen zu entwickeln. Es bedarf aber auch jenseits aller rechtlichen Vorgaben einer gesellschaftlichen Besinnung auf die Notwendigkeit eines stilvollen Diskurses.

Das BVerfG besteht aus sechzehn Richterinnen und Richtern. Können Sie uns drei Eigenschaften nennen, die eine gute Verfassungsrichterin, einen guten Verfassungsrichter ausmachen?

Stephan Harbarth: Besonders wichtig sind juristischer Sachverstand, ein feines Gespür für das Leben und eine innere Unabhängigkeit gegenüber dem zu entscheidenden Fall und den an ihm Beteiligten. Ein weiteres kommt hinzu: In den beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichts ringen jeweils acht Persönlichkeiten unterschiedlichster juristischer und biographischer Sozialisation miteinander und gemeinsam um das, was später als Konkretisierung von Verfassungsrecht auch mit Gesetzeskraft gelten soll.

Die Entscheidungen sind weit entfernt davon, die eines Senatsmitglieds zu sein, sondern in der Regel von einer breiten Mehrheit oder Einstimmigkeit getragen.

Die Entscheidungen sind weit entfernt davon, die eines Senatsmitglieds zu sein, sondern in der Regel von einer breiten Mehrheit oder Einstimmigkeit getragen. Auch deshalb entfalten sie Integrationskraft und tragen dazu bei, dass das Grundgesetz Bindekraft für unterschiedliche Lebensentwürfe von über 80 Millionen Menschen entwickelt. Dies erfordert von jedem Senatsmitglied die Bereitschaft, die Tiefe und Stärke der Position des Gegenübers zu durchdringen und die der eigenen zu überdenken, kurz: die Offenheit, sich selbst überzeugen zu lassen.

Herr Prof. Dr. Harbarth, unsere siebte Frage ist immer eine persönliche: Das Jahr ist noch jung. Gibt es etwas, was Sie sich für dieses Jahr vorgenommen haben? Was wünschen Sie sich für 2023?

Stephan Harbarth: Mit Blick auf die Ereignisse des vergangenen Jahres, insbesondere den Krieg in der Ukraine, teile ich mit wohl allen Menschen in unserem Land den großen Wunsch nach einer friedlicheren Welt.

Vielen Dank für das Interview Herr Prof. Dr. Harbarth!

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