„Die Politik muss Entscheidungen treffen – nicht die Wissenschaft!“
Das mehrteilige Interview-Special „Corona – Stresstest für Demokratie und Wissenschaft“ widmet sich dem fragilen Spannungsfeld von Demokratie und Wissenschaft und versucht die Frage zu beantworten: Kann Wissenschaft Demokratie? Im dritten Teil spricht Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, mit dem Präsidenten der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina Prof. Dr. Gerald Haug (52) über die Meinungsbildung in Politik und Gesellschaft, sachliche Debattenkultur und interessengeleiteten Lobbyismus.
Herr Prof. Dr. Haug, seit März 2020 sind Sie Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Was bedeuten Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?
Gerald Haug: In einer Demokratie zu leben bedeutet für mich persönlich, dass sich mein Engagement als Bürger für eine offene Gesellschaft und meine Orientierung als Wissenschaftler an nachvollziehbar gewonnenem Wissen wechselseitig stärken können.
Die freie Forschung benötigt einen Entfaltungsspielraum, den ihr letztendlich nur ein demokratischer Rechtsstaat bieten kann!
Demokratische Entscheidungen sollten so gut es geht durch wissenschaftliche Erkenntnisse informiert sein. Die freie Forschung benötigt einen Entfaltungsspielraum, den ihr letztendlich nur ein demokratischer Rechtsstaat bieten kann.
Die Nationale Akademie der Wissenschaften unterstützt die „Meinungsbildung in Politik und Gesellschaft“. Was bedeutet das konkret und wie möchten Sie das Vertrauen in die Wissenschaft zukünftig stärken?
Gerald Haug: Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina berät Politik und Öffentlichkeit zu gesellschaftlichen Fragestellungen, die in einem engen Bezug zur Wissenschaft stehen und deren Beantwortung im Sinne des Gemeinwohls auf der Grundlage des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes erfolgen sollte.
Nicht die Wissenschaft, sondern die demokratisch legitimierte Politik muss allgemein verbindliche Entscheidungen treffen.
Da unsere wissenschaftsbasierte Beratung aus einer intensiven fächerüberschreitenden Diskussion resultiert, ihre Ergebnisse nachvollziehbar dargestellt werden und die Leopoldina immer unterstreicht, dass nicht die Wissenschaft, sondern die demokratisch legitimierte Politik allgemein verbindliche Entscheidungen treffen muss, hoffen wir, dass wir damit das Vertrauen in die Wissenschaft als eine der wichtigsten Quellen unseres sozialen und wirtschaftlichen Wohlergehens stärken.
Stichwort Demokratie und Wissenschaft: Hat sich das Verhältnis von Demokratie und Wissenschaft durch die Corona-Pandemie verändert? Wird die Wissenschaft zu viel in die Verantwortung genommen?
Gerald Haug: Das Verhältnis von Demokratie und Wissenschaft hat sich in der Corona-Pandemie zwar nicht grundlegend verändert, aber die öffentliche Wahrnehmung der wichtigen Rolle, welche die Wissenschaft für ein demokratisches Gemeinwesen spielt, hat sich inmitten einer solchen Krisensituation intensiviert – man denke nur an die Entwicklung neuer Impfstoffe als einen entscheidenden Beitrag zur Eindämmung des Virus.
Das deutlich gesteigerte Interesse an der Wissenschaft begrüße ich nachdrücklich!
Das deutlich gesteigerte Interesse an der Wissenschaft begrüße ich nachdrücklich, denn ich hoffe, dass dies auch nach der Pandemie zur gesellschaftlichen Wertschätzung der Wissenschaft beitragen wird.
Die Politik ist – auch in der Corona-Pandemie – auf verlässliche Handlungsoptionen angewiesen. Was grenzt die wissenschaftsbasierte Politikberatung der Leopoldina von interessengeleitetem Lobbyismus ab?
Gerald Haug: Mit ihrer wissenschaftsbasierten Beratung verfolgt die Leopoldina keine privatwirtschaftlichen, parteipolitischen oder anderweitigen gruppenspezifischen Interessen. Wir arbeiten weder im Auftrag eines Industrieverbandes noch eines Ministeriums, auch nicht einer zivilgesellschaftlichen Organisation. In dieser Distanz zu einzelnen Interessengruppen orientieren wir uns an Kriterien, denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch in ihren Laboratorien und Instituten folgen, um zu verlässlichen – aber selbstverständlich angesichts neuer Erkenntnisse revidierbaren – Handlungsoptionen zu gelangen.
Gesellschaftliche Debatten werden in den sozialen Medien zunehmend aufgeheizt geführt. Welchen Beitrag kann die Wissenschaft leisten, um zu einer sachlichen Debattenkultur zurückzukehren?
Gerald Haug: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten zu einer Versachlichung vor allem dadurch beitragen, dass sie immer wieder auf den aktuellen Forschungsstand zu einer gesellschaftlich umstrittenen Frage hinweisen und sich bemühen, ihn – ganz im Sinne Einsteins – so einfach wie möglich, aber nicht einfacher darzustellen. Zudem sollten sie beharrlich darauf hinweisen, dass die Teilnahme an einer sachlichen Debatte die Fähigkeit voraussetzt, vor dem Hintergrund eines aus unterschiedlichen Quellen stammenden Wissens den Sachgehalt und die Schlüssigkeit der Argumentation, die einer anderen Meinung zugrunde liegt, beurteilen zu können.
Als Paläoklimatologe warnten Sie in einem Spiegel-Interview: „Wir katapultieren uns in eine Superwarmzeit“. Was muss jetzt passieren und ist konsequenter Klimaschutz in Demokratien überhaupt möglich?
Gerald Haug: Ein nachhaltiger Klimaschutz in Deutschland und Europa ist nur dann möglich, wenn die hierfür nötigen politischen Entscheidungen von Bürgerinnen und Bürgern aus freien Stücken mitgetragen werden.
Für nachhaltigen Klimaschutz müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der unterschiedlichsten Disziplinen zusammenarbeiten.
Dazu bedarf es nicht nur eines weit verbreiteten Verständnisses davon, auf welche Weise der Klimawandel vom menschlichen Handeln abhängig ist, sondern auch materieller Anreize für den Umbau zu einer klimaneutralen Industriegesellschaft – insbesondere einer sinnvollen CO2-Bepreisung. Damit diese Kombination aus Einsicht und Motivation möglich wird, müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der unterschiedlichsten Disziplinen zusammenarbeiten, also etwa der Paläoklimaforscher und der Ökonom.
Herr Prof. Dr. Haug, gerne möchten wir noch etwas Persönliches über Sie erfahren: Ihr Hobby ist Segeln, richtig? Wann waren Sie zuletzt im Segelboot unterwegs und wohin soll der nächste Törn gehen?
Gerald Haug: Mein letzter Segeltörn liegt schon viel zu lange zurück – hier geht es mir so wie fast allen von uns: Die Pandemie bringt auch die Balance zwischen Alltagsbelastung und Freizeitentspannung durcheinander.
Ich freue mich auf die Ostsee, sobald ein unbeschwertes Urlauben wieder möglich sein wird!
Umso mehr freue ich mich auf die Ostsee, sobald ein unbeschwertes Urlauben wieder möglich sein wird.